Gedanken zu Mk 1,40-45
Demonstrationen in großem Ausmaße haben in den letzten Wochen das öffentliche Bild in Deutschland geprägt und bestimmen es weiterhin. Die Mitte der Gesellschaft tritt auf, lautstark gegen Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, für mehr Demokratie und kulturelle Vielfalt. Letztlich geht es um Integration, dass kein Mensch aufgrund von Behinderung, Rasse, Geschlecht oder anderer Andersheiten ausgeschlossen wird. Wer andere ausschließt, engt sich ein und verarmt.
Wir haben heute ein Evangelium, das diese Thematik aufgreift. Da wird ein Mensch aufgrund einer Krankheit ausgeschlossen und erfährt in einem solchen Maße die Tragik seines Ausschlusses, dass er hier die ihm auferlegten Grenzen sprengt. Der Aussätzige durchbricht seinen abgegrenzten Bereich und nähert sich der Menschengruppe um Jesus.
Die Regeln für die Trennung von Aussätzigen von der Allgemeinheit sind zwar nachvollziehbar, – bei uns in der Coronazeit war es durch den Hausarrest nicht anders -, aber sie lassen die Lebenssituation der Betroffenen völlig außer Acht, sogar zuweilen soweit, dass die Betroffenen, die Kranken selbst sich als eine Zumutung für jede und jeden anderen empfinden, sogar gegenüber Gott. Mit solchen Selbstwertwunden leben zu viele Menschen, sogar ohne Krankheiten, mit der Folge, dass Teile des Lebens verborgen werden müssen, dass vieles getan wird, um irgendwie Anerkennung in der Gesellschaft zu erfahren.
Rainer Maria Rilke hat diese Erfahrung von Selbstwertwunden in einem Gedicht über Aussatz so verarbeitet:
Sieh, ich bin einer, den alles verlassen hat.
Keiner weiß in der Stadt von mir,
Aussatz hat mich befallen.
Und ich schlage mein Klapperwerk
klopfe mein trauriges Augenmerk
in die Ohren allen
die nahe vorübergehn.
Und die es hölzern hören, sehn
erst gar nicht her und was hier geschehn
wollen sie nicht erfahren.
Soweit der Klang meiner Klapper reicht
bin ich zuhause; aber vielleicht
machst Du meine Klapper so laut,
dass sich keiner in meine Ferne traut
der mir jetzt aus der Nähe weicht.
So dass ich sehr lange gehen kann
ohne Mädchen, Frau oder Mann
oder Kind zu entdecken.
Thiere will ich nicht schrecken
Der Erkrankte klagt hier über seine Ausgeschlossenheit, über seinen selbst empfundenen Unwert: „Und ich schlage mein Klapperwerk, klopfe mein trauriges Augenmerk in die Ohren allen, die nahe vorübergehn. Und die es hölzern hören, sehn erst gar nicht her und was hier geschehn wollen sie nicht erfahren.“ Er hat sich in seine Ausgeschlossenheit eingewöhnt: „Soweit der Klang meiner Klapper reicht bin ich zuhause;“ er wünscht sich sogar, dass sich die Ferne vergrößere, aber letztlich ist es ein einziger Schrei nach: „Mädchen, Frau oder Mann oder Kind.“ Tiere will er nicht schrecken.
Der Aussätzige im Evangelium verhält sich da anders. Dabei ist es nicht nur der Leidensdruck, der ihm hilft, die Grenze zu sprengen, es ist auch die feste Hoffnung und Gewissheit, dass dieser Jesus, von dem er gehört hatte, ihn heilen werde. „Wenn du willst, kannst du mich rein machen“, wendet er sich an Jesus.
Der Aussätzige brachte den Mut auf, und sei es aus Verzweiflung, das Wüstenei der Versteckspiele zu verlassen. Offensichtlich bewegte ihn die tiefe Hoffnung, dass es auch für ihn ein freies, ein befreites Leben geben kann, ja geben muss und dass dies zu finden wäre in diesem Jesus von Nazaret. So fügt er sich nicht in sein Schicksal, sondern bricht alle Tabus und wagt den Weg auf diesen Jesus zu, sogar bis zu seinen Füßen: „Er fiel vor ihm auf die Knie.“
Und Jesus hatte Mitleid mit ihm. In ursprünglicheren, früheren Handschriften steht hier: Jesus empfand Zorn, Zorn, dass da ein Mensch sich schämen muss für sich selbst, bis in seinen intimsten Gefühlsbereich hinein, bis in seine Beziehung zu Gott. So soll kein Mensch leben müssen.
Dies lässt nun Jesus alle Tabus brechen: „Ich will – werde rein!“ Er spricht nicht nur diese heilenden Worte, er streckt seine Hand aus und berührt diesen Menschen. Er nimmt dabei in Kauf, selber unrein zu werden, ausgegrenzt zu werden, was dann ja auch am Kreuz grausame Wirklichkeit wurde.
Jesus sprengt hier die religiös gesellschaftlichen Grenzen, durch die Menschen herabgesetzt und ausgegrenzt werden, formt sozusagen eine Gesellschaft, Gemeinschaft der Unreinen, die nicht ausgrenzt und vertreibt.
Dies sollte in Zukunft sein Lebensprogramm werden. Die Evangelien erzählen davon viele Begebenheiten. Im Gedränge nähert sich Jesus eine Frau von hinten, um den Saum seines Gewandes zu berühren; ein Gelähmter wird durch eine Öffnung vom Dach herabgelassen; der blinde Bartimäus schreit so lange, bis er von Jesus bemerkt wird; eine ausländische Frau lässt sich nicht abwimmeln und diskutiert mit Jesus, bis er von ihrem Glauben so beeindruckt ist, dass er ihr Kind heilt. Daran vollends besteht kein Zweifel, dass Jesus Dämonen austrieb und heilend wirkte. Er war eben der Heiland.
Von Franz von Assisi, der gleichfalls Schranken und Tabus der Gesellschaft in seiner Zeit durchbrach, gibt es die Erzählung einer Begegnung mit einem Aussätzigen.
Nachdem er den Aussätzigen umarmt hatte, beschreibt er diese Erfahrung so: „Das, was mir vorher bitter vorkam, verwandelte sich in Süßigkeit der Seele und des Leibes.“
Man muss diese Erfahrung sehr ernst nehmen. Ausgrenzungen, aus welchen Gründen auch immer, heute: Rassismus, Vertreibung, Fremdenfeindlichkeit lassen das Leben verarmen, machen es bitter und eng.
Wo Menschen es wagen, Grenzen zu überschreiten, andere ganz nahe an sich heranzulassen, sich ihnen zu nähern, sie zu berühren, mit ihnen in Kontakt zu treten, zu helfen, da verwandeln sich die Bedenken, die Angst um das eigene Selbst, um die Wahrung des eigenen Wohlstandes in Süßigkeit der Seele und des Leibes.
Die Heilkraft Jesu rührte nicht von irgendeiner Magie her. Sie hatte ihren heilenden Grund in seinen Worten und Gesten und dem Vertrauen, dass Gott selbst heilend in den Menschen wirkt.
Im Grunde ist dies die Basis allen Segens: Wir sprechen Worte, Segensworte, wie z.B.: „Ich wünsche dir einen guten Tag“, in der Hoffnung, dass unser Wohlwollen bei den Menschen ankommt und dass Gott das Gewünschte im Leben dieser Menschen einlöse.
Franz Nagler, Pfarrer