Angedacht für Freitag 20. Mai 2022

Es ist keine Frage, der Ukrainekrieg hat bestimmte Konstanten unserer Gesellschaft in Frage gestellt. Sollen wir Waffen liefern oder nicht? Gefährden wir uns dadurch selbst? Müssen wir aufgrund von Lieferschwierigkeiten von Gas und Öl Einschränkungen in Kauf nehmen?
Wesentliche Grundkonstanten unserer Gesellschaft könnte man so umschreiben, als dass sich unser Leben wie in einem isolierten Glaskolben abspielt. Der Staat, Versicherungen, Jobbörsen sorgen dafür, dass unser gefährdetes Leben, – da Leben immer gefährdet ist, in Sicherheit ungefährdet ablaufen kann. Im Gegensatz zu Lebensläufen in anderen Ländern, jetzt auch in der Ukraine, wo Menschen um ihr Leben kämpfen müssen, können wir sogar mit vorausschauender Logik unser Leben in Sicherheit gestalten. Dies ist an sich wünschenswert und Ziel von politischen und sozialen Maßnahmen. Dabei haben wir allerdings auch ein stückweit das Gespür für jene Sinnerfahrung verloren, die sich aus dem Kampf um Leben, Überleben ergibt. Wir wissen zudem, dass diese unsere Sicherheit mit viel Unrecht erkauft wurde, wenn wir die ungleichen Wirtschaftsverhältnis, die Vergewaltigung der Natur und der Schöpfung miteinbeziehen. Dieses Wissen wirft uns allerdings nicht allzu sehr aus der Bahn, aus unserer Gemütlichkeit. Dadurch, dass die Staatsmacht die ökonomischen Herausforderungen, oft durch populistische Geschenke, mildert, erhöht sich das Gefühl der eigenen Sicherheit.
Dies alles hat der Ukrainekrieg, – was andere Kriege, z.B. der Irakkrieg, weniger vermochten, zerstört oder wenigstens in Frage gestellt. Dass eine europäische Regierung zu einer faschistischen Verbrecherregierung mutieren könnte, dass ein Patriarch, einer der größten Teilkirchen der Orthodoxie, sich einer Verbrecherregierung andient und die Botschaft Jesu zutiefst verrät, war einfach nicht vorgesehen. Dass wir selbst, durch Waffenlieferungen gefährdet, in den Krieg miteinbezogen werden könnten, das verursacht in vielen ein mulmiges Angstgefühl, da solche Entscheidungen plötzlich existentielle Konsequenzen haben könnten.
In der Theologie wird in diesem Zusammenhang plötzlich wieder über Vulnerabilität, Verwundbarkeit gesprochen. Ist es oft nicht so, dass im Kleinen, wie im Großen Risiken eingegangen werden müssen, damit Leben gelingt, damit ein mehr an Leben gelingt, nicht nur für uns selbst, auch für unsere Mitmenschen? Sinnerfülltes Leben, wie es das Motto des Katholikentags in Stuttgart „leben teilen“ gut benennt, gelingt nur, wenn wir uns füreinander verwundbar machen. Wer also in diesem Szenario des Ukrainekrieges bereit ist, wie auch immer einzugreifen, – diese Solidarität ist absolut gefordert, der muss auch die Bereitschaft zur Verwundbarkeit aufbringen. Die Bibel ist voll von Begebenheit, in denen sich Menschen verwundbar machten und gerade dadurch Leben ermöglichten. Der Tod Jesu, die Traumata der Jünger danach, haben nicht zum definitiven Tod geführt, sondern zum Pfingstereignis, ein Fest auf das wir in einigen Wochen wieder zugehen.

Franz Nagler, Pfarrer