GEDANKEN ZU JER 1,4-5.17-19; LK 4,21-30

„Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt.“ Wie ist das und welche Bedeutung hat dies für unser Leben: aus dem Mutterleib schon ausersehen, geheiligt und bestimmt zu sein?

Etty Hillesum, die dasselbe Schicksal wie Anne Frank und Edith Stein erlitt, aus dem Durchgangslager Westerbork in Holland nach Ausschwitz verfrachtet und vergast worden zu sein, hatte sich zuvor freiwillig für den Dienst in der Krankenbaracke Westerbork gemeldet. Ein Untertauchen, das ihr aus dem Freundeskreis angeboten wurde, lehnte sie ausdrücklich mit der Begründung ab, sie wolle das Schicksal ihres Volkes teilen. Sie schrieb zuvor: „Den größten Raubbau an uns treiben wir selbst. Ich finde das Leben schön und fühle mich frei. Der Himmel ist in mir ebenso weit gespannt wie über mir. Ich glaube an Gott und ich glaube an die Menschen, das wage ich ohne Scham zu sagen. Das Leben ist schwer, aber das ist nicht schlimm. Man muss beginnen, sich selbst ernst zu nehmen, und das übrige kommt von selbst.“
Sie änderte ihre Gestimmtheit auch im Lager nicht: „Unter dem Himmel ist man zu Hause. Auf jedem Fleck der Erde ist man zu Hause, wenn man alles mit sich trägt“, meinte sie zu einem Freund.
Woher diese innere Gestimmtheit, dieser Wagemut: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt.“
Diese innere Gestimmtheit, dieser Wagemut hat demnach seinen Ursprung, seinen Keim im Mutterleib. Es ist keine Frage, dass unsere Fähigkeiten später in der Welt versöhnt für das Leben hinzustehen, aus der Verbundenheit im Leib der Mutter geboren werden. Emotionale Nähe und Liebe am Anfang des Lebens durch die Mutter, die Eltern ermöglichen später einen Stand im Leben, der, soweit wie bei Etty Hillesum, gehen kann, ja der eine ausgesprochene Anforderung später an das Leben stellt, für das Leben, auch anderer Menschen, einzutreten.
Lieblosigkeit dagegen macht krank und verhindert den Ruf der Berufung in das Leben. Dies setzt sich dann später fort und kreiert Menschen, die nicht mehr ihrer Lebensberufung folgen, sondern zu Egoisten oder kranken Menschen werden. Dabei spielt die digitale Kommunikation derzeit eine verhängnisvolle Rolle. Der in Berlin lebende Philosoph Byung-Chul Han meinte unlängst: „Wegen der Effizienz und Bequemlichkeit der digitalen Kommunikation meiden wir zunehmend den direkten Kontakt mit realen Personen, ja, den Kontakt mit dem Realen überhaupt. Bestehende Meinungen werden verfestigt, die Realität außerhalb der eigenen Filterblase verdunkelt. Die Fähigkeit, sich auf etwas Neues, Fremdes einzulassen, nimmt dadurch ab.“
Auf der anderen Seite wurde uns im Mutterleib, hoffentlich muss man allerdings sagen, ein Vertrauen in das Leben mitgegeben, das es dann als Berufung zu leben gilt.

Martin Buber meinte einmal: „Die Verbundenheit im Mutterleib mit dem Leben ist so welthaft, dass es wie das unvollkommene Ablesen einer urzeitlichen Inschrift anmutet, wenn es in der jüdischen Mythensprache heißt, im Mutterleibe wisse der Mensch das All, in der Geburt vergesse er es.“
Aber genau darum geht es, dieses Wissen der Verbundenheit, des Wissens um das All, das Leben, den Wagemut für das Leben hinzustehen, nicht zu vergessen. Selbst wer diesen Mut mit der Muttermilch nicht bekommen hat, kann sich später seiner Berufung bewusst werden und durch ein ehrliches Verhalten zu sich selbst, denselben Mut gewinnen, den andere schon im Mutterleib mitbekommen haben.

Die Lesung jedenfalls insistiert darauf, dass Jeremia schon im Mutterleib ausersehen, geheiligt und bestimmt war, und das soll er jetzt nicht vergessen. Er soll seine Berufung als Prophet nicht vergessen. „Du aber gürte dich, tritt vor sie hin und verkünde ihnen alles, was ich dir auftrage! Erschrick nicht vor ihnen! … Ich selbst mache dich zur befestigten Stadt, zur eisernen Säule und zur bronzenen Mauer gegen das ganze Land, gegen die Könige, Beamten und Priester, gegen die Bürger des Landes. Mögen sie dich bekämpfen, sie werden dich nicht bezwingen; denn ich bin mit dir, um dich zu retten.“
Prophet wird man nicht auf einem kirchlichen Dienstweg, man wird es auch nicht, weil man es gerne möchte oder sich gar für einen Propheten hält. Man wird es durch Berufung, indem man sich auf sein Wesen besinnt.
Wer bedenkt heute noch, dass er zu einer Aufgabe berufen ist, die ihm nicht zuletzt Sinn und Würde in seinem Leben geben würde?

Zurück zu Jeremia: Berufung ist immer auch Gottes Sache. Er hat das erste und das letzte Wort: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen …“. Die Gottesbeziehung ist die innere Achse der Berufung. Dabei ist es nicht immer ein Vergnügen seiner Berufung zu folgen. Jedenfalls hier bei Jeremia nicht. Genauso wenig wird da nach unseren Wünschen gefragt. Der Vollzug unserer Berufung, als Vollzug des Glaubens, hat mit Gott zu tun und nicht mit unseren Bedürfnissen oder einer egoistischen selbstzentrierten Selbstbestimmung.
Jesus erfuhr seine Berufung bei der Taufe und verfestigte sie in der Lektüre der Heiligen Schriften. Heute liest er eine Stelle und bezieht Stellung: „Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“
Bei der Diakonenweihe wird zu den zu Weihenden gesagt: „Was du liest, erfasse im Glauben, was du glaubst, verkünde, was du verkündest, erfülle mit Leben.“ Genau das tut Jesus hier. Er füllt das verkündete Wort mit seinem Leben.
Wir können bei Jesus annehmen, dass er seine Berufung schon im Mutterleib erfuhr. Bei der Empfängnis erfuhr Maria durch die Worte des Engels: „Dein Sohn wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vater David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben.“

Was wissen wir, welche Worte über uns am Anfang gesprochen wurden? Es stimmt, was Ignatius von Loyola einmal sagte: „Die meisten Menschen ahnen nicht, was Gott aus ihnen machen könnte, wenn sie sich ihm nur zur Verfügung stellen würden.“ Dieses „zur Verfügung stellen“ ist die größte Herausforderung an unser Leben, denn davon hängt unser Lebensglück ab.
Aus der Berufung erwächst die Sendung, die Gemeinschaft oder der Widerstand sowie letztlich die tiefste Sinnhaftigkeit unseres Lebens. (FN)